Die ersten 100 Tage in der neuen Kanzlei

Wenn ein Politiker ein neues Amt antritt, gilt für ihn die 100-Tage-Regel. Innerhalb dieser Zeit arbeitet er sich ein und weist erste Erfolge vor. Auch Anwälte sollten die 100-Tage-Frist beim Start an einem neuen Arbeitsplatz gut nutzen.

Der erste Eindruck entscheidet. Und zwar darüber, ob der Junganwalt und die Junganwältin in der Kanzlei die Probezeit überstehen und Karriere machen werden – oder eben nicht. „Man braucht ungefähr drei Monate, um sich an einem neuen Arbeitsplatz zu orientieren“. Meine Empfehlung laute: „Betrachten Sie diese Zeit wie ein Zirkeltraining, bei dem man von Gerät zu Gerät geht. Finden Sie für sich heraus: Wie lauten die Spielregeln in der Kanzlei? Und passt das überhaupt zu mir? Setzen Sie dazu den Außenblick, den Sie als Neuling noch auf die Kanzlei haben, reflektorisch ein.“ Sechs Aspekte sollten Sie dabei beachten:

Klären Sie die fachlichen Anforderungen, die an Sie gestellt werden und beginnen Sie damit, Wissenslücken zu schließen. Niemand erwartet von Ihnen, dass Sie nach den ersten drei Monaten perfekt eingearbeitet sind. Man geht davon aus, dass eine fachliche Einarbeitung mindestens sechs bis zwölf Monate dauert. Ein häufiger Anfängerfehler: Neue Mitarbeiter konzentrieren sich in den ersten Monaten oft ausschließlich auf das Fachliche. Dabei ist es nur einer von insgesamt sechs Aspekten, die den erfolgreichen Einstieg möglich machen. Die anderen fünf Punkte sind genauso wichtig.

Lernen Sie die Kanzleikultur kennen – sowohl in der Praxisgruppe als auch in der Gesamtkanzlei. Schauen Sie sich zum Beispiel an, welche Regeln gelten und wie der Umgang untereinander ist. Achten Sie darauf, wie kommuniziert wird. Wie geht man miteinander und mit den Mandanten um? Wie werden Aufgaben verteilt und in welcher Art und Weise erfolgt eine Übergabe? In welcher Sprache wird miteinander kommuniziert und inwieweit ist auch das Persönliche wichtig? Dies alles sind Fragen, die Sie klären sollten.

Finden Sie auch heraus, welche Arbeits- und Pausenregelungen es gibt, wie üblich das Arbeiten im Home Office ist und wie die Abläufe sind, wenn Weiterbildungsseminare gebucht werden sollen. Halten Sie sich an diese Regeln, sofern Sie sich nicht völlig verbiegen müssen.

Vor allem in den ersten Monaten kann mangelnde Kommunikation zwischen Associate und Partner zu Missverständnissen und Fehlern bei der Arbeit führen. Man glaubt, man hat eine Anweisung verstanden, aber in Wahrheit wollte der Partner etwas völlig anderen. Gehen Sie deshalb ins Detail und fragen Sie genau nach: Was habe ich verstanden und ist es auch das, was der Partner unter seinem Arbeitsauftrag versteht, wenn er zum Beispiel von „selbstständig arbeiten“ spricht? Klären Sie gemeinsam die Definition solcher Begriffe.

Machen Sie sich bekannt, nicht nur innerhalb Ihrer eigenen Praxisgruppe, sondern in der gesamten Kanzlei: Bei den Partnern, im Management und bei den Business Services. Finden Sie heraus, wo die Alphatiere sitzen und schließen Sie sich an den Flurfunk an.

Nehmen Sie dazu ein Organigramm der Kanzlei und markieren sie die Meinungsbildner und Partner mit einem besonderen Status, also etwa Partner, die in den Gremien der Kanzlei mitarbeiten. Wenn es der Kanzleikultur entspricht, können Sie auch proaktiv den Kontakt aufnehmen, zum Beispiel an die Bürotür eines Partnersklopfen und sich kurz vorstellen.

Klären Sie für sich die Frage: Wie will ich in der Kanzlei wahrgenommen werden? Finden Sie dazu zunächst heraus, welcher Typ Mensch gefördert wird, wer bleibt und wer geht, sagt Carmen Schön. Dann überlegen Sie, welche Rolle Sie besetzen möchten.

Wer zum Beispiel permanent Verbesserungsvorschläge macht und Abläufe kritisiert, könnte  irgendwann nur noch als Überbringer schlechter Nachrichten wahrgenommen werden.

Es kann hilfreich sein, die Geschichte einer Praxisgruppe zu erforschen, denn manchmal schlummern ungelöste Konflikte. Finden Sie heraus: Wer war vor mir da? Was ist aus den Menschen geworden? Wer macht Karriere und wer nicht? Und vor allem: Warum ist das so?

Wenn Sie beispielsweise mitbekommen, dass Ihr Vorgänger besonders aufmüpfig war, dann sollten sich in den ersten Monaten lieber etwas mit Kritik und Verbesserungsvorschlägen zurückhalten. So verhindern Sie, dass Sie zu unrecht schnell als Querulant abgestempelt werden.

Zu guter Letzt: „Probezeit“ bedeutet, dass beide Seiten entscheiden, ob man zusammen passt – nicht nur der Arbeitgeber. Wenn Sie zum Schluss kommen, dass Sie sich in der Kanzlei nicht wohlfühlen, dann werten Sie das nicht allein als Versagen. Sondern überlegen Sie, welche Konsequenzen Sie daraus ziehen wollen.

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